[ Mein Protagonist, der Kunststudent Gerhart Geissler, ist Rundfunksprecher. So habe ich als Einstieg eine Radiomeldung aus dem Jahr 1967 gewählt. Der Schah von Persien, der damalige Diktator des Iran, ist auf Staatsbesuch in Deutschland.]
„Die Zeit: 13 Uhr. Hier ist das Mittagsjournal vom 3. Juni. Die Nachrichten. Westberlin. Wie gestern Nacht bekannt wurde, erlag der im Zuge der Ausschreitungen schwer verletzte 26jährige Benno Ohnesorg, Student an der Freien Universität Berlin, am späten Abend seinen Verletzungen. Der Autopsie zufolge war die Todesursache nicht der erlittene Schädelbruch, sondern ein Schuss des in Zivil agierenden Polizeiobermeisters Karl-Heinz Kurras, der den bereits am Boden Liegenden aus kurzer Distanz in den Kopf traf. Der Beamte gab an, aus Notwehr gehandelt zu haben. Beobachter befürchten, dass nach diesem ersten Todesfall seit Beginn der Unruhen und angesichts der Umstände, wie es dazu kam, die Lage weiter eskalieren könnte.“ […]
Viertel nach zwölf und ich steh‘ noch immer im Senderaum mit dem Manuskript in der Hand. Will ich dieselben Nachrichten noch mal lesen? Nichts wie raus aus dem dumpfen Mauerloch!
Endlich im Freien, öffne ich Jacke, Hemd und Lungen, strecke die Arme hoch und lasse den frischen Nordwind auf Hals und Brust fluten. Die Glocken der Karlskirche, die er im Gepäck trägt, klingen wie aus weiter Ferne. Aus der Ferne der Kindheit, als solche Glocken noch eine Bedeutung hatten. Ich versuche die Dinge in den Griff zu kriegen, fische eine Zigarette aus der verkrumpelten Packung, schaffe es, sie vom Wind geschützt anzuzünden, ohne mir dabei die Finger zu verbrennen und lasse die tiefen Züge ihre Wirkung tun. Eine Woge der Entspannung steigt aus den Lungen in den Kopf. Ich öffne das zerknitterte Manuskript und gehe alles noch mal durch, eine Anfängergewohnheit, die ich noch nicht abgelegt habe…. Ein Manuskript ganz nach meinem Geschmack. Sätze überschaubar, kurze Blöcke, nur gängige Wörter: ‚Feudalherrscher‘, ‚Autopsie‘, ‚Schädelbruch‘ – ein Text, der von der Zunge geht. Und alles über ein Thema. Man muss nicht ständig umschalten. Ich habe alles hingekriegt, die Zeitmarkierungen eingehalten, keine Fehler gemacht – zumindest keine, derer ich mir bewusst bin.
Warum bin ich dann so zittrig?
Weil es ein Höllenjob ist! Eine Tortur, die ich mir drei bis vier Mal in der Woche antue. Freiwillig. Als freier Mitarbeiter bist du so frei, nehmen zu müssen, was man dir zuschanzt. Jede Spätsendung, jedes Wochenende, jeden Feiertag, den ein Festangestellter mit Familie natürlich anderswo verbringt als im Funkhaus. Und du bist so frei, an die frische Luft gesetzt zu werden, wenn dem Sendeleiter deine Stimme nicht mehr passt. Oder deine Haarlänge.
[ In der Kantine wird Gerhart vom Redakteur angesprochen:]
„Eines ist mir aufgefallen“ [sagt der Redakteur] „nimm das bitte nicht persönlich….“ – heißt: Es ist persönlich – „….da passieren solche Dinge und du liest alles so teilnahmslos vom Blatt, als sei es der Wetterbericht, so ganz ohne Gefühl.“
„Ich bin Sprecher“, erwidere ich. „Ein Sprecher ist angehalten zu sachlichem Ton.“
„Weißt du, man kann in einer Stimme lesen wie in einem Buch. In deiner war Routine, Präzision, Wohlklang, ja, fast würde ich sagen, zu viel Wohlklang.“
„Wie kann in einer Stimme zu viel Wohlklang sein? Wohlklang ist doch das Salz jeder Rundfunkstimme.“
„Sieh mal, ich war auch Sprecher. Ich hatte wie jeder von uns meine Vorbilder, Stimmen, die mir heute noch im Ohr sind. In ihnen war außer Routine und Wohlklang auch so etwas wie – Gefühl. Ein Gefühl, das ich bei dir vermisse.“
„Gefühle können täuschen“, sage ich.
Er sieht mich nachdenklich an. „Du bist doch selber Student. Was ist deine Meinung über die Kundgebungen?“
Meinung? Als hätte ich als Sprecher eine zu haben. Solche Kundgebungen, meine ich, seien überzogen, die Folgen hätten sich die Revoluzzer selber zuzuschreiben. Ein Student habe an sein Studium zu denken wie der Sprecher an seine Sendung.
„Und weder der Student in dir noch der Sprecher zeigt einen Funken Sympathie?“
„Sympathie für Leute, die sich Hetzern anschließen, mit Steinen schmeißen, sich niederknüppeln lassen und am nächsten Tag im Hörsaal aufkreuzen und zur Tagesordnung zurückkehren, als sei nichts gewesen?“
Er schüttelt den Kopf. „In dem Punkt irrst du gewaltig. Wer da einmal drin ist, kehrt nicht zurück zur Tagesordnung. Du wirfst einen Stein in einen Teich. Der Stein versinkt, aber die Welle, die er auslöst, setzt sich fort. Die denkt nicht dran, kehrtzumachen. Was da passiert, ist erst der Anfang. Aber vielleicht wird ja 1967 ein Schicksalsjahr. Vielleicht ist alles gut so, wie es kommt….“
Ich starre ihn an. „Vielleicht ist eine Studentenrevolte gut?“
„Gut im Sinne von notwendig. Ihr seid die Generation von morgen. Die Welt gehört euch. Wenn ihr sie nicht verändert, wer dann?“
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