Ein Science-Fiction Film verirrt sich in ein Buch gegen Macht und Gewalt.
Was hat Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum“ mit „Brennt Gomorrha?“ zu tun?
Die Antwort könnte knapper nicht sein: Viel!
„2001“ ist, vorweg gesagt, nicht irgendein Film. Kritiker reihen ihn unter die 10 wichtigsten, die jemals gedreht wurden.
Nicht nur technisch bahnbrechend, beschreitet Kubricks Meisterwerk, weit darüber hinaus, einen neuen Weg visuellen Erzählens. Der Regisseur entführt uns in eine bislang unbekannte Dimension. Gerade mal ein paar Tausend Wörter Dialog, der Rest ist Schweigen. Fühlen. Nachdenken. Über den Irrfahrer Odysseus, den zu den Menschen herabsteigenden Philosophen Zarathustra und den zu den Sternen emporsteigenden Dave Bowman.
Ein Film, der dich wortlos anspricht. Dem „Helden“ meines Romans, Gerhart Geissler, weist er, gleich dem geheimnisvollen Monolithen aus dem Film, einen Weg aus der schlimmsten Krise seines Lebens.
Und so erlebt der Protagonist aus „Brennt Gomorrha“ Kubricks „Odyssee“:
Endlich gehen die Lichter im Saal aus. Jetzt sollte aller Logik nach der Film beginnen – tut er aber nicht. Die tausend Zuschauer versinken in totaler Schwärze, nur Musik schwebt im Raum. Ein Vorspiel aus geheimnisvoll klingenden Tönen, eine Art Ouvertüre wie in der Oper. Erst nach ein paar Minuten erscheint das erste Bild. Es ist naturgemäß der Studiovorspann – aber der Metro-Goldwyn-Mayer-Löwe existiert nur noch in seinen Konturen und statt seines klassischen Brüllers füllt lediglich ein tiefer, vibrierender Brummton den Saal. Ein Streicher-Tremolo, das ich sofort erkenne, noch bevor der bekannte c-g-c-Dreiklang kommt. Es ist die sinfonische Dichtung ‚Also sprach Zarathustra‘ von Richard Strauss. Damals, als ich für mein Philosophie-Abitur das Buch von Nietzsche las, kaufte ich auch die Schallplatte in der Hoffnung, die schwierige Materie würde so, wenn schon nicht erklärlicher, so zumindest verdaulicher werden. All diesen Ergüssen vom Übermenschen, der den Menschen überwindet, und vom guten Krieg, der jede Sache heiligt, vom Tod Gottes und vom Götzen Staat konnte ich damals nichts abgewinnen – noch nicht. Nur so viel wusste ich: Die Musik beginnt wie das Buch mit der Entscheidung des Denkers Zarathustra, nachdem er seine Jahre in der Einsiedelei verbracht hat, noch vor Sonnenaufgang zu den Menschen herabzusteigen. Prompt erscheinen auf der riesigen Leinwand Mond, Erde und Sonne in Konjunktion…. begleitet von der gewaltigen Musik geht die Sonne auf…. der Titel blendet sich ein…. und die Szene wechselt in eine prähistorische Landschaft von endloser Weite. ‚Aufbruch der Menschheit‘ verkündet eine weitere Einblendung und man sieht, wie ein Rudel Menschenaffen in der afrikanischen Steppe ihr karges Dasein fristet. Einer von ihnen wird gleich vorweg Opfer eines reißenden Leoparden, die anderen raufen mit einem zweiten Rudel um die einzige Wasserstelle. Die armen, ausgehungerten Kreaturen sind nicht zu beneiden um ihre klägliche Existenz.
Aber dann passiert etwas! Plötzlich stehen sie einem seltsamen, völlig regelmäßigen Quader gegenüber, drei-, viermal so groß wie sie selbst. Sie tanzen staunend darum herum…. berühren zögernd die glatte Oberfläche…. scharen sich sodann um das geheimnisvolle Objekt, als es in präziser Konjunktion zu Sonne und Mond steht. Da ergreift einer von ihnen den langen weißen Beinknochen eines verrotteten Tierkadavers und hat die Eingebung, ihn als Waffe und Werkzeug zu benutzen. Die Menschwerdung hat begonnen. Die Hominiden müssen nicht mehr hungern. Und wieder setzt das tiefe Tremolo ein und steigert sich zum Crescendo des Dreiklangs. Also spricht Zarathustra im Hintergrund: Er verkündet die Geburt der Rasse Mensch mit den ihm eigenen Wesensmerkmalen Denken – Handeln – Töten – Morden. Mit seiner Knochenkeule bewaffnet, stellt sich Homo faber an der Wasserstelle dem Kampf, erschlägt seinen Widersacher, den Noch-Affen, und steigt auf zum Herrn des Wassers. Triumphierend wirft er seine Waffe in den Himmel. Die Folge ist ein Filmriss von gigantischem Ausmaß. Die Handlung springt um dreihunderttausend Jahre und der emporgeschleuderte Knochen verwandelt sich in einer Fünfundzwanzigstelsekunde in ein rotierendes Raumschiff. Wir schreiben das Jahr 1999.
Auf einer Mondstation wurde ein seltsamer Gegenstand ausgegraben. Ein sogenannter Monolith, die gleiche Art von Quader, den einst die Menschenaffen staunend begafften, stößt beim Homo sapiens auf genau die gleiche Reaktion, denn vor ihm türmt sich überlebensgroß der erste Beweis von außerirdischer Intelligenz auf, einen schrillen Signalton von sich gebend, als der erste Sonnenstrahl auf ihn trifft. Noch wird die Neuigkeit geheim gehalten, eine Expedition wird ausgerüstet. Achtzehn Monate später ist der Astronaut mit den Kinderaugen, Dave Bowman sein Name, zusammen mit seiner Crew im Raumschiff ‚Discovery‘ unterwegs zum Jupiter, wie eine Einblendung mitteilt. Drei der fünf Astronauten wurden infolge der jahrelangen Reise in Tiefschlaf versetzt. Außer seinem Kollegen Frank Poole hat Dave als Gesprächspartner nur noch den hochentwickelten Computer HAL 9000, der nicht nur für alle denkt, sondern – siehe da! – auch Gefühle zeigt. Nicht immer die richtigen Gefühle, denn das Zyklopenauge, das alle Vorgänge an Bord argwöhnisch verfolgt, leistet sich auf einmal gravierende Fehler. Der blinde Glaube an die Allmacht der Technik wird brüchig. Bowman steht vor dem Zweikampf mit dem Einäugigen, der, launenhaft geworden, ihn und seine Gefährten bedroht – und der Film geht in die Pause.
Benommen von den besitzergreifenden Bildern wanke ich, dem Strom der anderen folgend, hinaus ins Freie und finde mich unter einem Sternenhimmel wieder, der nur zwei kleine Schönheitsfehler hat, nämlich dass er von Alleebäumen gesäumt ist und dass statt eines Raumschiffs der A-Wagen vorbeizieht – was mich aber nur marginal betrifft, so versenkt bin ich in das eben Erlebte. So völlig versenkt, dass ich mich nicht in die Schlacht um Sekt und Kaviar stürze und meiner Begleitung nichts offerieren kann als meine stumme Anwesenheit, denn im Moment kommunizieren wir, der Linie des Films folgend, nonverbal.
Natürlich lässt sich noch nicht abschätzen, ob „2001“ am Ende halten wird, was es im Moment verspricht. Nämlich alles und mehr noch. Andererseits wurde es von der überwiegenden Mehrheit der Kritiker in der Luft zerrissen. So viele Stimmen können doch nicht irren….
….oder?
Der zweite Akt spricht Klartext. Zumindest noch am Beginn. Der Zyklop frisst tatsächlich Bowmans Gefährten, indem er die Lebensfunktionen der Schlafenden auslöscht und Daves Kumpel Poole unter dem Vorwand eines Defekts an der Außenhülle aus dem sicheren Raumschiff in den sicheren Tod lockt. Worauf Bowman keine andere Wahl hat, als den einäugigen Gegner zu blenden. HAL 9000, der vielleicht gar nichts für seine Paranoia kann, stirbt einen traurigen Heldentod. „Ich habe Angst!“, kann er gerade noch artikulieren, nachdem Dave in sein Elektronengehirn eingedrungen ist und nach und nach alle seine Funktionen lahmlegt, bis das Auge erlischt. So bleibt Bowman nichts anderes übrig, als mutterseelenallein eine Mission durchzuführen, deren Ausgang in den Sternen steht. Wenigstens erhält er – spät, aber doch – Klarheit über die Hintergründe dieser Mission, denn durch das Ausschalten HALs wird eine geheime Videobotschaft vorzeitig abgespielt.
Inzwischen nähert sich die „Discovery‘ unaufhaltsam dem Einflussfeld Jupiters. Als bildfüllend der große Bruder des Monolithen auftaucht, beschließt Bowman, das Raumschiff zu verlassen und sich dem Objekt in der Kapsel zu nähern – da kippt die Perspektive und der Monolith verschlingt Bowman samt Kapsel. Eine neue Dimension eröffnet sich den staunenden Augen des Astronauten, der seine Reise durch den Zeittunnel antritt. Unglaubliche, fantastische Bilder begleiten ihn und den fassungslosen Zuschauer Der Platz in der zwölften Reihe Mitte ist optimal! Die Fülle der surrealen Farben und Formen deckt sich präzise mit dem Wahrnehmungsfeld, die starke Krümmung der Leinwand tut das übrige. Es ist, als würde der Tunnel sich um uns schließen – uns mit Dave Bowman mitverschlingen. Als breite sich vor uns frech und protzig das Universum aus.
Am Ende verlässt ein vor der Zeitreise gezeichneter Dave Bowman die Kapsel – und findet sich in einer Hotelsuite wieder! Räumlichkeiten, die den gewohnten Vier-Sterne-Komfort bieten, dabei aber so surreal wirken, als wären sie reine Kulisse. Der gut gemeinte Versuch fremder, mit menschlichen Sinnen unfassbarer Wesen, dem weitgereisten Gast die fremde Galaxis wohnlich zu machen. Um die Verwirrung perfekt zu machen, steht Bowman plötzlich seinem eigenen, gealterten Ich gegenüber, mit dem er allerdings durch den Zeitunterschied ebenso wenig Kontakt hat wie mit den seltsamen Wesen, die das alles vor seine Augen zaubern, selber aber keine Gestalt annehmen. Eine traurige Einsamkeit und Leere überkommt Dave, als er seine sterbliche Hülle ablegt und seine Hand nach dem Monolithen ausstreckt….
„Du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.“ Also sprach Zarathustra.
Und wie er die Hominiden auf ihrem Weg begleitet hat und Hunderttausende Jahre später die Menschen bei ihrem Aufbruch zu den Sternen, so begleitet der Monolith den neugeborenen Dave in seine neue Existenz. In der letzten Einstellung ist das Sternenkind, das einst Dave Bowman war, am Ziel seiner Odyssee angelangt. Es ist zur Erde zurückgekehrt. In neuer Gestalt, der eines riesigen Embryos, schwebt er als Übermensch über den Dingen. Und ist gleichzeitig staunendes Kind geblieben. Die Welt, die jetzt tief unter ihm auf der riesigen Leinwand auftaucht, erscheint ihm als Spielball. Das neue Wesen kennt die Kräfte der höheren Intelligenz noch nicht. Aber wenn es so weit ist, wird es wissen, was zu tun ist. Seine neue Existenz ist eine, die keine Abgründe mehr kennt, eine Existenz jenseits von Hoffen und Bangen, jenseits von Schmach und Schande, jenseits von Zerstörung und Tod.
Und ein von Schmach, Schande und Todessehnsucht befreiter Gerhart verlässt den Ort des Orakels, lässt das bunte Lichtwerk des Kinosaals hinter sich, tritt über eine enge Stiege ins Freie und findet sich vor dem riesigen Loch wieder, auf dem das künftige Umspannwerk entstehen soll. Und er sieht wieder irdisches Licht, das dreckige Gelb der Straßenlaternen, und hört wieder irdische Laute, das Hupen der Autos, die sich ihren Weg durch die Menschenmassen bahnen, das Gebimmel des vorbeifahrenden A-Wagens und das geradezu babylonische Sprachgewirr der verwirrten Premierengäste, das von Kundgebungen höchsten Lobes bis zu Äußerungen abgrundtiefer Empörung reicht. Ein Film und so viele Meinungen! Aber Menschen sind halt verschieden, denkt Gerhart, und wahrscheinlich ist es gut so und richtig so. Wer in seiner sterblichen Hülle unter anderen Sterblichen leben will, muss ihr Anderssein akzeptieren und zu seinem eigenen Anderssein stehen, denn Anderssein ist Teil des Menschseins. Hast du das einmal begriffen, denkt Gerhart, ist dir deine sterbliche Hülle auch keine Last mehr.
Und Gerhart fühlt sich tatsächlich von jeder Last frei. Ihm ist, als bewege er sich schwebend wie seine Begleiterin, der er die Hand entgegenstreckt zu einer letzten Berührung. In dieser Berührung ist Dank und Abschied, bevor sie ihren Weg geht und er den seinen. Gerhart hat zwar noch keine Ahnung, wohin ihn sein Weg führt, den er nun allein anzutreten hat, aber er spürt neue Kräfte in sich, die seine Schritte lenken. Ihm ist, als habe er mehr begriffen in den letzten zweiundzwanzig Stunden als in den zweiundzwanzig Jahren davor.
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