In einer Sendung über Sigmund Freud bezeichnete ein Seelenklempner Wien als eine Stadt der Neurotiker. Einen üppig gedeckten Tisch für den Tiefenpsychologen und Traumdeuter Freud, dem nirgendwo sonst ein so durchschlagender Erfolg beschieden gewesen wäre als hier in dieser seelenverklemmten Stadt, wo er aus dem Vollen schöpfen konnte.
Meine Geburtsstadt ein Tummelplatz von Psychos? Ist ein so pauschales Urteil zulässig? Wien hat im Laufe seiner Geschichte kaum anderes erlebt als vergleichbare Metropolen. Selbstgemachtes und fremdverschuldetes Elend, Kulturkriege, Ständekriege, Absolutismus, Faschismus und die Herrschaft der katholischen Kirche. Die Frage ist, wie die Wiener Seele damit umgegangen ist. Bewältigung oder Verdrängung?
Der Wiener ist ein bekennender Minimalist. Angesichts dessen, was andere besitzen, meint er nur stereotyp: „I‘ brauch des all’s net. I‘ wüll nur mei‘ Ruh‘.“ Ruhe und ewige Ruhe sind für ihn eng beheimatete Begriffe. Mit zur Schau getragener Duldermiene erträgt er die Prüfungen des Lebens und schiebt Nichtbewältigtes in das Nachtkästchen des Unterbewussten. Er raunzt und lamentiert wegen jeder Kleinigkeit, hat sich aber mit dem Kleingeist, der ihn umgibt, arrangiert. Wien ist immer Biedermeierstadt geblieben. Heiterkeit nach außen, der sprichwörtliche „Schmäh“, als Selbstschutz. Welche andere Stadt würde einen „Lieben Augustin“, einen notorischen Trinker, der unter Realitätsverlust leidet, zur Leitfigur machen?
Missglückte Lebensbewältigung oder bloße Koketterie mit dem Morbiden? Die Theaterstücke, die an unseren Bühnen gegeben werden, handeln auffallend oft von geistiger Umnachtung – und die Regie zieht alle Register, dieses Irresein noch zu verstärken. Auffallend viele Romane, die hier geschrieben wurden, haben Untergang und Weltschmerz zum Thema. Das sogenannte Wienerlied kokettiert ständig mit dem Tod. Jedes zweite Heurigenlied besingt das Sterben – sogar beim geselligen Saufen denkt man an den Tod.
Der Wiener ist ein wandelndes Lexikon der Populärmedizin und war es schon, bevor Doktor Google kam. Was ein gepflegter Kaffee-haustratsch sein will, ergeht sich in Beschreibungen und Diagnosen von Siechtum und Elend, entweder dem eigenen oder, so man damit nicht aufwarten kann, dem seiner Nahestehenden. Den Spaziergänger zieht es magisch ins Zwischenland des Zentralfriedhofs, wo er in lieblicher Landschaft über Leichen gehen kann, die da, wie es heißt, „sanft schlummern“, eingebettet in marmornen Kitsch.
Wie kein anderes Völkchen, das von der tragischen slawischen Seele geprägt ist, liebt der Wiener das Tête-à-tête mit dem Tod als treuem, stets erreichbarem Freund oder, wie der Wiener sagt, „Spezi“. Daraus schöpft er die Kraft zur Bewältigung des Übergangszustandes, sprich: Leben.
Not, Elend und Verlust sind für den, der sich die Schwermut um den Hals hängt, logische Zustände. Wir brauchen in unserer Geschichte gar nicht so weit zurückgehen, um uns das vor Augen zu führen. Unsere Eltern blicken zurück auf eine Kindheit, die nicht an Glück und Geborgenheit überfloss, von „freien Entfaltungsmög-lichkeiten“, einer „Selbstverwirklichung“, wie man sie heute für sich in Anspruch nimmt, ganz zu schweigen. Unsere Groß- und Urgroßeltern wurden politisch auf ein Minimum zurechtgestutzt, doch haben sie gelernt, in Zeiten des Elends innerlich zu wachsen. Schrecknisse wegzustecken, die ihnen sonst den Verstand rauben würden, und solche zu ignorieren, die man nicht ändern kann.
Inneres Wachstum bedeutet aber auch, klaren Kopf zu bewahren. Die Dinge so zu sehen, wie sie sind und sie richtig zu interpretieren. Nehmen die Nebel der Verdrängung so sehr überhand, dass die klare Sicht verschwindet, drohen Perspektiven zu kippen. Geschehenes wird verharmlost, Schuld geleugnet, Xenophobie als Heimattreue verteidigt, Verbrechen an der Menschlichkeit bagatellisiert und gescheiterte Weltanschauungen neu heraufbeschworen.
Nur wer die Vergangenheit bewältigt hat, schafft es, in der Gegen-wart zu leben und sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen. Die Verlierer von heute glorifizieren ein verlorenes Gestern und verschließen sich einem Morgen.
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