Nach dem Abstecher ins „Hollywood Hotel“ kehrt Tom Ackermann wieder in heimische Gefilde zurück: „Obermoos“, ein entzückendes Nest aus dem Hochglanzprospekt, in dem jeder seine Bilderbuchrolle spielt. Denn, so der Wirt Theobald Obermooser: Auf das Äußere kommt es an. Leider will sein Sohn Dominik, ein hochbegabter „Spinner“, so ganz und gar nicht in diese Schablone passen. Schon im Buch der Bücher steht: Wen Gott liebt, den züchtigt er. Wenig Liebe, viel Zucht ist die Krux des kreuzbraven Wirtssohns Dominik. Sein Leben ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle, wie schon der Prolog anklingen lässt:
DEEP FALL
12:02. Von der Neugier getrieben, schleppe ich mich über den glühenden Asphalt. Was hat es mit diesen seltsamen Musikfetzen in der Luft auf sich? Nach der nächsten Biegung bestätigt sich meine Vermutung: Es sind Jahrmarktklänge. Eine Dunstglocke aus Popcorn, Langos, Zwiebeln, Knoblauch und schmorendem Fleisch schlägt mir entgegen.
12:08. Ich stehe vor einem schlangenartigen Schienengeknäuel, durch das rote, raketenförmige Geschosse rattern, gefüllt mit Geschrei. Eines von ihnen hat den höchsten Punkt erreicht, zögert kurz, als wolle es sich die Sache nochmals überlegen, dann jagt es mit seiner kreischenden Last in den Abgrund. Beim Anblick des fast senkrechten Gefälles überkommt mich wohliger Schauder. Das Ding trägt die fetten Lettern DEEP FALL. Hier wirst du auf deine Rechnung kommen, Dominik. Zehn, zwanzig Fahrten; jede zwei Minuten entfesselten Glücks. Erste Reihe fußfrei. Du hängst in der Luft und fühlst dich doch sicher. Die Technik denkt und lenkt. Die lassen nichts durch, was nicht zigmal kontrolliert wurde. Du weißt, wie man es anstellt, die erste Reihe für sich zu haben. Du machst dich auf dem Einstiegsitz breit, stellst dich dumm, und falls dich wer anspricht, antwortest du englisch oder französisch. Mehrsprachigkeit überfordert die Kerle an der Abfertigung. Endlich! Die Türen springen auf. Mit geradezu kindlicher Flinkheit drängle ich mich in die erste Reihe durch. Geschafft! Poleposition! Da schreit eine Stimme neben mir: „He! Sie da!“. Auf rüden Ton reagiere ich nicht, doch der Mann tippt mir so heftig auf die Schulter, dass ich hochfahre und mich irritiert umdrehe: „Ja, bitte?“ So viel zum Thema Mehrsprachigkeit.
„Da wartn so vül Leit, ruck umi!“ Das Du ist Usus im ländlichen Raum. Widerstandslos gebe ich den linken Sitz frei. Ein Mann klettert in den Wagen. Er trägt einen Anzug wie zu einer Beerdigung und ist leicht einen Kopf größer und einen Zentner schwerer als ich. Schwungvoll lässt er sich in den Sitz plumpsen. Ich kauere mich an den rechten Rand, um nicht von seiner Fülle erdrückt zu werden, was die Freude auf die Fahrt dämpft.
Aber es kommt noch dicker. Unter Einsatz seiner Masse stemmt sich der Mann gegen den Bauchbarren, der nur zur Hälfte zugeht. Keine Ahnung, wie er das schafft; ich habe einmal versucht, meinen Rucksack dazwischenzuschieben, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, und wäre fast zerdrückt worden. Ist ihm denn nicht bewusst, welchen Kräften er ausgesetzt sein wird? Eine falsche Bewegung und… Ich versuche, ihn zu warnen, aber er blickt mich feindselig an. Und der Typ von der Abfertigung denkt nicht daran, einzuschreiten, Hauptsache, ich sitze korrekt. Ob ich ihn herrufen soll? Besser nicht. Schon in der Schule hat man mir ausgetrieben, andere zu verpfeifen.
Sekunde null: Die Fahrt beginnt. Rasch ist die ratternde Kette erreicht, die uns hochzieht. Der Jahrmarkt unter uns schrumpft zu ameisenartigem Gewusel. Als das sechssitzige Wägelchen Anlauf nimmt für den ersten, naturgemäß steilsten Drop, erwachen die Reihen hinter mir zu kreischendem Leben – Kundgebungen, die mir schon als Kind zu primitiv waren. Ich bevorzuge stummen Genuss.
Deep Fall – was für eine Wucht! Mit Urgewalt donnert der Wagen zu Tal und jagt den nächsten Berg hoch. Da passiert es. Statt sich an die Griffe zu klammern, streckt der Ungesicherte neben mir die Arme hoch und wird vom Sitz gehoben. Wie zum Hohn reagiert jetzt der Barren und landet auf seinen Schenkeln. Zurück in den Sitz kann der Mann nicht mehr, so versucht er, in einer Position auszuharren, in der er sich nicht lang wird halten können. Zu hoch ist jetzt sein Schwerpunkt. Und schon ist es passiert. Er verliert das Gleichgewicht, prallt gegen eine Stütze und stürzt kopfüber vor den Wagen, der sich in seinen Leib bohrt, knapp vor dem Scheitelpunkt des nächsten Berges. Mitten im tiefblauen Himmel findet die Fahrt ihr jähes Ende, als verweigere uns Petrus die Weiterreise. Den Umsteigbahnhof hat der Mann erreicht. Seine sterbliche Hülle ist zum Glück außerhalb meines Blickfeldes; schon der Anblick des blutbespritzen Gestänges ist mehr, als man erträgt. Gespenstische Stille hinter mir. Sind die Leute noch da? Natürlich. Sie tragen ja den Bügel um den Leib.
Und der macht sie sicher?
Ich kenne das System. Ein Coaster ist dreifach gesichert. Leibbügel, Stromunterbrecher und Notbremsen an den Wägen. Wer übernähme sonst die Verantwortung? Es war menschliches Versagen, den Mann ungesichert loszuschicken.
Auch dein Versagen. Gerade weil du alles zu wissen glaubst, hättest du eingreifen müssen. Niemand nimmt dir die Schuld ab.
Was hätte ich denn tun sollen?
Melden, dass ein Passagier nicht gesichert ist. Aber du hast dich aus der Verantwortung gestohlen. Es ist deine Schuld, dass ein Mensch tot ist. Und weitere elf sterben werden.
Weitere elf?
Bislang kanntest du nur das System. Heute lernst du die Lücken im System kennen.
Die Lücken… Zwei Wagen auf dem Kurs. Im Notfall unterbricht ein Modul den Strom. Ein zweites aktiviert die Notbremsen an den Wägen. Ein Ding wie dieses muss mehrfach gesichert sein.
Und doch läuft die Zugkette weiter.
Das kann nicht sein. Der Strom…
…ist nicht unterbrochen. Der zweite Wagen…
…klinkt sich in die Kette ein… klettert den Berg empor… ist schon auf Augenhöhe mit uns… wie ich annahm, vollbesetzt, darunter mehrere Kinder…
…denen der grausige Anblick nicht erspart bleibt. Ein Vorgeschmack dessen, was sie selbst erwartet.
Schon hat er den höchsten Punkt erreicht… trennt sich von der Zugkette… gewinnt an Fahrt…. Ja, kriegt denn keiner mit, was los ist?
Schlampige Abfertigung, ein defektes Sicherheitssystem und niemand reagiert. Drei Fehler in Folge. Mehr, als das System verkraftet.
Sechs Passagiere plus Eigengewicht, geschätzte zwanzig Zentner auf einem Gefälle von 70 Grad… Beschleunigung auf 80, 90km/h… genügt, uns aus der Führung zu reißen und in den freien Fall zu schicken. Schon holt sich das Geschoß den Schwung, uns abzuschießen… das Donnern kündigt sein Kommen an… noch zehn Sekunden… fünf… drei… zwei bis zum…
… DEEP FALL.
PICCOLO
Die sieben Grundregeln des Servierens hatte ich mir im Nu angeeignet. – Regel eins: An Tischen, wo einige noch bei der Suppe sind, bleiben die Hauptspeisen in der Warteschleife. – Regel zwei: Nichts, was schwappen oder kippen kann, über Gästeköpfen balancieren. – Regel drei: Kellnerfinger aus der Suppe. – Regel vier: Beim Servieren des Jagatellers vor Schrotkugeln im Fleisch warnen. Kein guter Zahnarzt weit und breit. – Regel fünf: Der Palatschinkenmantel über dem „Obermooser Geheimnis“ hat Fleisch, Beilagen und Garnier zur Gänze zu verhüllen – klar, sonst wär’s kein Geheimnis. – Regel sechs: Bei der „Heißen Liebe“ darf (anders als bei der echten) nichts dahinschmelzen, also rasch servieren. – Regel sieben: Beim Flambieren den Alkohol mäßig dosieren. In einer guten Küche brennt nichts an, auch Kellnerhände nicht.
Wohlweislich hatte der Erste-Hilfe-Kasten seinen nahen Platz, denn das alte Monstrum von Ofen mit gleich drei feuerspeienden Mäulern ließ sich nur durch Verschieben von dicken Eisenringen bändigen und gehorchte nur einer Person: seiner Dompteuse, und auch der nur, solange sie sich keinen Fehler leistete. Doch wie Göttin Hestia behielt die Trogerin das lodernde Element unter Kontrolle, obwohl die Herdplatte die halbe Küche ausfüllte und zur Mittagszeit der reinste Verschubbahnhof war. Suppe, Braten, Kotelett, Omelette, Eierspeise, Kaiserschmarren, alles wurde gleichzeitig zubereitet, aber in der Reihenfolge der Bestellung serviert. Neben dem Herd warteten in Reih und Glied die Tabletts, und es war ihre wie auch meine Aufgabe, im Auge zu behalten, was Priorität hatte und was noch eine Weile am Rand des Ofens dahinköchelte. Töpfe, die am Überkochen waren, selbst zu verschieben, war mir verboten – eine der wenigen Einschränkungen meiner Freiheit. Nicht einmal den Elektroherd durfte ich bedienen.
Hie und da huschte ein anerkennendes Wort oder gar ein Lächeln über die Lippen meines Erhalters, wenn ich mit vollem Tablett und dem Warnruf „Vorsicht! Heiß!“ den Stammtisch ansteuerte. Nur noch dort konservierte der Wirt Reste von Witz und Stimmung, aber sein Humor, falls er je einen hatte, war beißender denn je. Seit ihm nach der Frau auch noch die Tochter abhanden gekommen war, gab er sich keine Mühe mehr, seine Mieselsucht zu verbergen. Ich hingegen trachtete, mein Erscheinungsbild so aufzupolieren (merk dir, Bua, s Äußere is, wos zöhlt), dass das gebeutelte Innere dahinter verschwand. Von Anfang an wollte ich die Kellnerlivree optimal füllen, obwohl Vater sie wie all meine Kleidung ‚zum einewachsn‘ gekauft hatte. Seine Kalkulation beruhte auf der Prämisse, dass der nächste große Schub längst fällig war, was nicht hieß, dass er überhaupt je kommen würde. So beschloss ich, mein Wachstum selbst in die Hand zu nehmen, trainierte vor dem Spiegel Stimme und Erscheinung und versuchte so, das schlabbernde Äußere mit Innenleben zu füllen. Mir war klar, dass ich, abgesehen von der für mein Alter viel zu hohen Stimme, auch an der Mimik zu arbeiten hatte, sowohl an der eigenen als auch der Fähigkeit, Gesichter zu lesen. Ich musste mir abgewöhnen, jeden schiefen oder spöttischen Blick auf mich zu beziehen. Aber Selbstwertgefühl kriegst du nicht auf dem Brett serviert. Bisher war ich in der Gaststube des Lebens nur Zaungast gewesen, Beobachter aus ironischer Distanz. Nun war ich mit einem Schlag Teil der Gastlichkeit und somit Teil der Unterhaltung. Ins Gasthaus gehst du nicht, um zu essen. Das kannst du zu Hause. Ein guter Kellner sorgt für Stimmung. Servieren tut er nebenbei. Ohne ein Mindestmaß an Gelassenheit, wusste ich, war mein neues Rollenfach nicht zu schaffen. Aber Lockerheit lernst du nicht vor dem Spiegel. Verlorene Zeit. Je länger du in der Pose verharrst, desto verkrampfter die Mimik. Außerdem ist es müßig, eine Rolle einzustudieren, die du nicht planen kannst? Im Jagastübl zu kellnern war fast so schwierig, wie mit Fuchsi auf der Bühne zu stehen. Nichts kommt wie erwartet. Du hast nur zwei Optionen: an der Gaudi teilzunehmen oder ihr Opfer zu sein. Einzig und allein du entscheidest, ob mit dir oder über dich gelacht wird. Was mir dabei am meisten half, war mein Talent im Imitieren. Der Stammtisch, von dem ich mich früher stets gehänselt gefühlt hatte, verlor seine Kanten, sobald ich seine Sprache beherrschte. Stammtischunterhaltung ist im Grunde nichts anderes als Rotzbubengaudi, nur in einer anderen Oktave. Einer ist immer das Opfer, aber immer seltener war der „Dommel“ derjenige welcher. Und kamen doch noch blöde Sager, gab ich ebensolche zurück. In einer Runde wie dieser lernst du, geschnittene Bälle zu kontern. Entscheidend ist nicht, wer den Schlagabtausch gewinnt. Entscheidend für den Umsatz ist, dass der Schmäh läuft.
Aber Stimmung kommt nicht auf Bestellung wie eine Jagaplatte, die immer gleich aussieht. Es gibt Tage, da bist du in Hochform, und Tage, da hat dich der Frust im Würgegriff. An solchen Tagen, kam ich rasch dahinter, ließ sich der Heiterkeitspegel rasch und bequem mit Hausmitteln hochpushen. Die Vogelbeere in verflüssigter Form erwies sich da als optimaler Stimmungs-auffrischer.
Natürlich blieb meinem Vater nicht lange verborgen, dass sein Sohn im zarten Alter von fünfzehn hochgeistigen Stimulantia nicht abhold war, doch ließ er mich gewähren, solange der Nutzen den Schaden überwog. Dass bisweilen beim Servieren das Balancegefühl etwas nachließ, störte ihn nur, wenn dabei Geschirr in die Brüche ging. Kinderarbeit sah er nur dann kritisch, wenn sie mangelhaft erfolgte.
Was jedoch immer seltener der Fall war. Alles kriegst du mit Routine hin.